Arno TagungSoziale Sicherheit für alle!
Corona, Digitalisierung und Grundeinkommen

Werner Rätz

Krisen bringen Dinge auf den Punkt. Sie machen vieles sichtbar, das zwar immer schon da, auch keineswegs verborgen war, das man vielfach aber nicht wahrnehmen wollte. Sie zeigen auch in aller Klarheit, wo Auswege aus dem Dilemma liegen könnten.

Die Coronakrise hat, neben vielem anderen, deutlich werden lassen, dass es sich mitten im Kapitalismus ohne ein gesichertes Einkommen kaum leben lässt. Dass die Quellen für ein solches Einkommen in eben diesem Kapitalismus höchst ungewiss sind, hat die politische Linke immer schon behauptet, aber nun erleben es Millionen Menschen am eigenen Leib.

Das ist gleichzeitig eine Aussage über die Tätigkeiten, die bisher zu einem Einkommen führten. Da wird erkennbar, dass eine ganze Reihe an gesellschaftlich eher weniger honorierten Tätigkeiten ausgesprochen „systemrelevant“ sind, um einmal dieses Modewort des herrschenden Krisendiskurses zu benutzen. Das führt freilich bisher nicht dazu, dass die Etablierung eines guten Gesundheitssystems und einer umfassenden öffentlichen Infrastruktur im tatsächlichen Geschehen Priorität gewännen. Im Gegenteil, nicht einmal die Verfügbarkeit des Lebensnotwendigen, und sei es nur Toilettenpapier, kann ohne regelmäßiges Eingreifen politischer Instanzen sichergestellt werden.

Aber auch auf diese Instanzen, also den Staat, ist kein Verlass. Er rettet lieber mit neun Milliarden Euro die Fluggesellschaften als mit einer Milliarde die freie Kulturszene. Für zahlreiche Menschen war halt immer schon der Normalzustand das Problem und nicht erst die Krise. Die Systematik staatlicher Maßnahmen, wenn es denn eine solche gibt, zielt auf den Erhalt der Unternehmen, dabei deutlich mehr der großen als der kleinen. Davon können Kleinunternehmer*innen ein Lied singen, egal ob sie nun Restaurants, Frisierläden, Kioske oder Einrichtungen betreiben, die auch formal „Begegnungsstätten“ heißen, was die erstgenannten ja auch sind.

Was wirklich wichtig ist für die Gesellschaft und worauf man auch ganz gut verzichten könnte, ist also nicht die Richtschnur der Entscheidungen. Dennoch ist unübersehbar, dass es zahlreiche Tätigkeiten gibt, die in unserer Gesellschaft bezahlt werden, aber im Grunde genommen überflüssig sind, und andere, die nicht oder miserabel bezahlt werden, ohne die es aber nicht geht.

Auch das ist keine wirklich neue Erkenntnis, nicht nur für die Linke. Im Diskurs rund um die Digitalisierung ist es seit langem eine Position, dass die Maschinen viele Verrichtungen übernehmen könnten, die heute noch von Menschen gemacht werden. Diese Erwartung ist je nach Standort, von dem her man die Dinge betrachtet, mit Angst oder Erleichterung verbunden. Wer seine Arbeit gerne tut, wer mit der Berufswahl und dem Arbeitsplatz Glück gehabt hat, wird darauf nicht verzichten wollen. Wer für 450 Euro monatlich 20 Stunden die Woche im Supermarkt Regale auffüllt und weitere Stunden in Bereitschaft verbringen muss, wird eher darauf orientieren, dass Roboter die Arbeit machen und der Staat ein bedingungsloses Grundeinkommen zahlt.

Dabei darf man bezüglich ihrer Wirkung auf den Arbeitsmarkt die Digitalisierung nicht überschätzen. Fraglos wird sich das Arbeitsleben mit der zunehmenden Etablierung digitaler Abläufe weiter verändern, zum Teil drastisch. Was den schon zitierten Supermarkt betrifft, ist das von der technischen Seite her ja völlig klar, dass er fast ohne direkte menschliche Tätigkeit zu führen wäre. Da sind nur deshalb noch viele Beschäftigte drin, weil sie ihre Arbeitskraft aus purer Not billiger verkaufen als die Kosten der Robotisierung wären. Hier würden also Arbeitsplätze wegfallen können.

In vielen Branchen aber würde es eher darum gehen, dass Maschinen bestimmte Tätigkeiten übernehmen und keineswegs ganze Berufe ersetzen. Das ist auch in der Empirie die zu beobachtende Tendenz, allerdings setzt sie sich langsamer durch, als es rein von der technologischen Entwicklung her möglich wäre. Dabei spielt eine unerwartete Schwierigkeit eine Rolle, die noch nur wenig erforscht ist, aber in diesen wenigen wissenschaftlichen Arbeiten schon sehr deutlich hervortritt. Die Interaktion von Mensch und Maschine in komplexeren Prozessen lässt sich kaum hierarchisch organisieren, weshalb Digitalisierung hier den Abbau horizontaler Betriebsstrukturen verlangt oder zumindest die Verringerung ihrer Bedeutung. Das kann hier nicht näher ausgeführt werden, sondern der Verweis auf die entsprechende Literatur muss genügen, zum Beispiel für einen guten Überblick das Buch „Marx und die Roboter“ von Florian Butollo und Sabine Nuss.

Trotzdem werden digitale Technologien das Arbeitsleben immer tiefer durchdringen und das wird nicht nur Folgen für die konkreten Arbeitsabläufe haben. Auch die Arbeitsorganisation ändert sich deutlich. Die Kooperation zwischen mehreren Unternehmen wird in immer stärkerem Maße über Plattformen organisiert, zum Beispiel im Mobilitätsbereich, wo Autokonzerne, Fahrradhersteller, Verkehrsunternehmen, Softwareentwickler, Plattformanbieter und freiberufliche Expert*innen gemeinsam Mobilitätsplattformen aufbauen. Aber auch innerhalb der Unternehmen wird betriebsübergreifend oder innerhalb der Betriebe über die verschiedenen Abteilungen hinweg über digitale Plattformen geplant und Prozesse organisiert. Diese Arbeitsformen stehen nicht nur in Spannung mit betrieblichen Hierarchien, sondern auch mit kontinuierlichen Arbeitsabläufen. Auch unternehmensintern nimmt das Projekt immer häufiger die Stelle immergleicher fester Verantwortungen ein. Die Bewertung der Mitarbeiter*innen seitens der Unternehmensführung erfolgt immer stärker aufgrund ihrer konkreten Rolle im (letzten) Projekt, ihrer „Performance“, ob sie nun einen Arbeitsvertrag haben oder nicht. Beobachter*innen haben das verschiedentlich mit der Film- oder anderen kreativen Branchen verglichen, wo Beschäftigungen ohnehin immer schon nur das konkrete Projekt betrafen.

Dass sich aus diesen Entwicklungen Konsequenzen für die Einkommenssituation der Menschen ergeben, liegt auf der Hand. Und auch die Sozialsysteme, die in Deutschland ja systematisch an feste Beschäftigungsverhältnisse gebunden sind, können dabei nicht unbeeinträchtigt bleiben. Die Digitalisierung führt keineswegs notwendig zu weniger Erwerbsarbeit, auch nicht unbedingt zu weniger Einkommen. Aber Form, Dauer und Ablauf von Arbeit und Bezahlung ändern sich.

Die Idee des alten Sozialstaats war, dass die Menschen dauerhaft in den Unternehmen beschäftigt sind, dort ein regelmäßiges Einkommen erhalten, von dem man ebenso wie vom Gewinn der Unternehmen einen Teil heranzieht, um die Sozialsysteme zu finanzieren. Unabhängig davon, wie gut man diese Idee findet, kann sie nur funktionieren, wenn Beschäftigung und Einkommen für die allermeisten Menschen tatsächlich lebenslang gegeben sind. Genau das ist aber schon längst nicht mehr der Fall und die Digitalisierung wird diesen laufenden Veränderungsprozess noch weiter beschleunigen. Es wird also immer offensichtlicher zu einer öffentlichen Aufgabe, soziale Sicherheit für alle herzustellen.

Eine umfassend ausgearbeitete Vorstellung dafür ist das bedingungslose Grundeinkommen (BGE). Dabei würde in einem ersten Schritt der Staat sicherstellen, dass jeder Mensch im Land ein Einkommen hätte, von dem man halbwegs ordentlich leben kann und das unabhängig von seiner Stellung im Erwerbsleben und von seinen daraus erzielten Einnahmen wäre. Dabei wird der Vorschlag von einer Erfahrung, einem Grundsatz und einer Schlussfolgerung geleitet. Die Erfahrung ist, dass der Kapitalismus Menschen nicht ausreichend und nicht regelmäßig mit Einkommen ausstattet, und wo doch, zunehmend weniger zuverlässig. Der Grundsatz ist, dass der Teil des gesellschaftlichen Reichtums, der aus gemeinsamer Anstrengung der Gesellschaft hervorgegangen ist, auch allen Gliedern der Gesellschaft zusteht. Und die Schlussfolgerung ist, dass, wenn sie ohne Einkommen im Kapitalismus nicht leben können, dieser ihnen ein solches aber nicht garantiert, und wenn ihnen ohnehin ein Anspruch auf einen Teil des gesellschaftlichen Reichtums als gemeinsamem Erbe vergangener Arbeit zusteht, dieser Teil auf alle zu verteilen ist.

Praktikabel ist dieser Vorschlag nur, wenn gleichzeitig mit dem gerade beschrieben ersten Schritt ein zweiter gegangen wird. Der besteht darin, das Prinzip des alten Sozialstaats auch hier anzuwenden, nämlich von allen Einkommen und den Unternehmensgewinnen einen Teil heranzuziehen, um die Sozialsysteme, also auch das bedingungslose Grundeinkommen, zu finanzieren. Bezieher*innen hoher Einkommen und hoher Gewinne würden also deutlich mehr beitragen müssen, als sie an Grundeinkommen erhalten hätten. So würde sichergestellt, dass zwar jeder Mensch seiner materiellen Existenz sicher sein kann, egal wie seine Zukunft sich entwickelt, aber trotzdem die Privilegien des reicheren Teils der Gesellschaft nicht einfach bestehen bleiben.

Die Coronakrise hat die Notwendigkeit eines Einkommens und die Potenziale eines BGE noch einmal deutlich plausibler gemacht. Das drückte sich im Frühjahr 2020 in zahlreichen Petitionen an unterschiedliche Adressaten aus, die inzwischen weit über ein Million Unterschriften gefunden haben. Dabei sind die Forderungen der jeweiligen Petent*innen im Einzelnen recht unterschiedlich. Einige wollen lediglich eine Notfallzahlung an besonders von der Krise Betroffene, andere zielen auf ein vollumfängliches Grundeinkommen gemäß der breit akzeptierten Definition, dass die Zahlung unabhängig von Erwerbsstatus und Einkommen an alle, ohne Gegenleistung und in einer Höhe, die Existenz und gesellschaftliche Teilhabe sichert, erfolgen soll. Einige fordern zeitlich begrenzte Zahlungen, andere dauerhafte. Nicht nur die Zahl der Unterstützer*innen, sondern auch die Unterschiedlichkeit der Personen, die Petitionen verfasst haben, zeigen, dass die Forderung weit über die herkömmliche Grundeinkommensszene hinaus Zustimmung findet.

Mit der Europäischen Bürgerinitiative „Start bedingungsloser Grundeinkommen überall in der EU“ versuchen gegenwärtig Gruppen und Organisationen europaweit Druck aufzubauen, um zu solchen Lösungen zu kommen. Sie haben ausdrücklich formuliert, dass „das bedingungslose Grundeinkommen den Sozialstaat nicht ersetzen, sondern ergänzen“ soll und es sich um eine Zahlung handeln muss, die „jedem Menschen die materielle Existenz und die Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe sicher(t)“. Die Sammlung der zum Erfolg notwendigen eine Million Unterschriften hat am 25. September 2020 begonnen und läuft genau ein Jahr. Unterzeichnen kann man hier https://www.ebi-grundeinkommen.de/


Literatur:

Florian Butollo/Sabine Nuss (Hg.), Marx und die Roboter. Vernetzte Produktion, Künstliche Intelligenz und lebendige Arbeit, Berlin 2019

Dagmar Paternoga/Werner Rätz/Dominik Piétron, Eine andere Digitalisierung ist möglich. Chancen und Risiken einer vernetzten Gesellschaft, Hamburg 2019

Werner Rätz/Dagmar Paternoga/Gernot Reipen/Jörg Reiners (Hg.), Digitalisierung? Grundeinkommen!, Wien 2019

Besprechungen aller drei Bücher und weitere Texte auf der Webseite des Autors https://www.werner-raetz.de/