Arno TagungHoch-Risikogruppe: Fleischarbeiter
Viel zu spät wird jetzt wegen Corona aufgeregt getestet. Aber das Hauptübel sind die betrügerischen Werkverträge der osteuropäischen Arbeiter. Eine Kampagne für Menschenrechte und Rechtsstaat steht an

Werner Rügemer

Eine der höchsten Risikogruppen – sie blieb bei allen drastischen Gegenmaßnahmen völlig unbeachtet. Plötzlich wurde bekannt: In Schlachthöfen sind osteuropäische Werkvertragsarbeiter extrem häufig vom Corona-Virus infiziert: Beim Westfleisch-Konzern in Coesfeld/Münsterland 129 Infizierte unter 1.200 Beschäftigten. 150 Infizierte von 1.200 Beschäftigten im Werk Oer-Erkenschwick. 300 Infizierte unter 1.100 Beschäftigten bei Müller Fleisch in Pforzheim/Baden-Württemberg. 49 Infizierte beim ersten Anlauf im Werk Bad Bramstedt/Schleswig-Holstein des niederländischen Schlachtkonzerns Vion. Und so weiter. Plötzlich will die NRW-Landesregierung 20.000 Beschäftigte testen und auch deren enge Massenunterkünfte kontrollieren.

Böklunder Würstchen: Systemrelevant
Aber wie glaubwürdig sind die Virus-Bekämpfer? Vorher haben sie die Fleischproduktion als „systemrelevant“ erklärt: Die Wanderarbeiter wurden unkontrolliert und ungeschützt zu noch mehr Sonderschichten getrieben.

Clemens Tönnies, Haupteigentümer des größten Schweineschlachtkonzerns Deutschlands und Europas, der Tönnies Holding, lobt, dass der als „systemrelevant“ eingestuft wurde. Böklunder Würstchen im Glas von Tönnies: systemrelevant. „Durch Corona ist die Nachfrage nach unseren Fleischwaren um ein Drittel gestiegen“, verkündete er stolz. Und: Meine „Mitarbeiter“ schieben jetzt zusätzlich 16-Stunden-Schichten am Wochenende.

Die Risikogruppe: Landesregierung und Unternehmer schauen erstmal weg
Die Fleischzerleger gehören zu einer der höchsten Risikogruppen. Das wurde in den USA schon frühzeitig deutlich: Die ausgebeuteten Afroamerikaner, Latinos, Nepalesen, Flüchtlinge aus Asien und Südamerika in den Fleischfabriken von Smithfield Foods, Tyson Foods & Co sind extrem häufig infiziert und sterben besonders häufig, auch in jungen Jahren.

Arbeit: Eng und stressig
Die Fleischzerleger arbeiten vielfach Schulter an Schulter. Die Luft wird ständig ausgetauscht. Die Arbeit ist anstrengend, der Zeitdruck extrem hoch, die Schichten können auch mal 16 Stunden dauern, Pausen werden oft nicht eingehalten. Die Körper sind geschwächt. Deshalb halten die meisten der osteuropäischen Arbeiter diese Belastungen nur zwischen zwei und vier Jahren aus und werden dann von den Vermittlern zurück nach Bulgarien, Rumänien, Polen, Ungarn, Moldau und in die Ukraine zurückgeschickt, ob krank oder gesund.

Das Werkvertragssystem wurde durch die Regierungen unter Kanzler Kohl seit den 1990er Jahren ausgebaut. Bei der erstmaligen größeren Ermittlung durch das NRW-Arbeitsministerium im Jahr 2019 – ein halbes Jahr vor Corona - wurde in 30 NRW-Großbetrieben mit 17.000 Beschäftigten folgendes festgestellt: „5.800 Arbeitszeitverstöße“, „unangemessene Lohnabzüge“, „unwürdige Unterkünfte“, „mangelhafter Arbeitsschutz“, „Schichten mit über 16 Stunden“, „nicht eingehaltene Ruhepausen“, „lärmbedingte Hörschäden“, „entfernte Schutzeinrichtungen“, „abgeschlossene Notausgänge“, „gefährlicher Umgang mit Gefahrstoffen“. Der Untersuchungsbericht wurde im Januar 2020 veröffentlicht. Bekannt war das sowieso schon lange. Aber nun hatten sich die Behörden weit vor „Corona“ aus eigener Anschauung über die Risikogruppe informiert.

Der Bericht nennt allerdings keine Namen von Konzernen, ihren Subunternehmen und Verantwortlichen. Keine Staatsanwaltschaft wurde informiert.

Enge Massenunterkünfte
Das Infektionsrisiko entsteht nicht nur in der Arbeitssituation. In der Regel sind die Werkvertragler in engen Mehrbettzimmern untergebracht. Sechs bis acht Arbeiter auf 30 Quadratmetern, mit gemeinsamer kleiner Küche und gemeinsamen knappen Sanitäranlagen. Der Einrichtungs- und Hygiene-Standard bleibt auf niedrigem Niveau.

Täglicher Hin- und Hertransport in Kleinbussen
Die Schlachtbetriebe stehen in der Stadt, die Massenunterkünfte sind in armen Stadtvierteln oder entfernt in ländlicher Gegend. Das können schon mal 20 Kilometer sein. Die Arbeiter werden in Kleinbussen täglich hin- und hertransportiert, eng nebeneinander sitzend.

Polizei, Zoll, Gewerbeaufsicht, Gesundheitsamt: Organisiert wegschauen!
Die Polizei, die streng das Abstandsgebot in städtischen Parks, Straßen und Geschäften kontrolliert und Bußgelder verhängt – sie kam in keinem Schlachtbetrieb vorbei. Ebenso der Zoll, die Gewerbeaufsicht (zuständig für die Arbeitssicherheit), die Gesundheitsämter – keiner kam.

Betrügerische Werkverträge?
Die Risikogruppe wird durch mehrere Praktiken unter der Knute gehalten. Das zentrale Instrument ist der Werkvertrag. Damit werden die flächendeckenden, hunderttausendfachen Rechtsbrüche ermöglicht, die das NRW-Arbeitsministerium dokumentiert hat.

Ein unterschiedlich hoher Anteil der Beschäftigten – etwa zwischen 20 und 80 Prozent – sind Werkvertragsarbeiter. Sie kommen meist aus osteuropäischen, durch die EU verarmten Staaten: Hohe Arbeitslosigkeit, niedrigste Niedrig- und Mindestlöhne, in Moldau 200 Euro im Monat.

Was ist ein Werkvertrag?
Werkvertrag: Das bedeutet den in Deutschland niedrigsten arbeitsrechtlichen Status, noch unterhalb der Leiharbeit:
*Die Arbeiter sind nicht in dem Betrieb angestellt, in dem sie arbeiten, auch nicht bei einer Leiharbeitsfirma.
*Die Arbeiter sind angestellt bei einer Werkvertragsfirma, die mit Vermittlungsgebühr, Abzügen für Fahrservice, Schutzausrüstung und Unterkunftsvermietung ihre Angestellten in Mehrfach-Abhängigkeit hält.
*Werkvertragler müssen nicht, wie Leiharbeiter, nach neun Monaten in ein reguläres Arbeitsverhältnis übernommen werden.

Was ist ein „Werk“?
Eine Werkvertragsfirma liefert, verkauft an den jeweiligen Fleischkonzern ein „Werk“, also zum Beispiel das Schlachten und Zerlegen von 30.000 Schweinen pro Tag wie im Tönnies-Betrieb in Rheda-Wiedenbrück. Dafür muss die Werkvertragsfirma eigene Geräte vorhalten, das Schlacht-know how beherrschen und die Arbeitsanweisungen an ihre Angestellten geben - eigentlich.

Das ist aber in der Regel nach allem Anschein nicht der Fall. Die Arbeitsanweisungen am Arbeitsplatz kommen offenbar nicht von der Werkvertragsfirma, sondern vom Personal der Konzerne Westfleisch, Müller Fleisch, Vion usw. Die stellen auch alle Arbeitsvorrichtungen. Auch bei Corona zeigt sich: Die Schutzmaßnahmen gehen, wenn, dann von den Konzernen aus. Sie geben den Werkvertragsfirmen die Anweisungen, beschaffen jetzt die Masken, regeln Schichten, stellen Desinfiziergeräte hin, schicken Erkrankte zum Arzt.

Dauerhafter Unrechts-Zustand
Es sieht ganz so aus, dass die Konstruktion der Werkverträge betrügerisch ist: Die Werkvertragsfirmen haben keine eigenen Geräte und geben keine konkreten Arbeitsanweisungen. In Wirklichkeit werden Leiharbeiter vermittelt. Durch den Status als Werkvertragler werden sie verbilligt und entrechtet, werden gefügig und erpressbar gemacht: Moderne Sklaven. Da kommt es vor, dass Stundenzettel gefälscht werden; dass Überstunden verlangt, aber nicht bezahlt werden.

Die „Werkvertrags“firmen haben für Leiharbeit aber keine Lizenz, machen sich also auch hier strafbar, seit Jahrzehnten. Werden aber nicht sanktioniert. Aufgrund der jahrzehntelangen Nutzung durch die beauftragenden Fleischkonzerne kann man von deren Beihilfe zu einer Straftat ausgehen.

Die Öffentlichkeit weiß so wenig Genaues, weil selbst die aktivsten Behörden die Werkverträge bisher nicht prüfen. Jetzt bei „Corona“ wird lediglich die Ansteckungsgefahr untersucht. Aber auch bei seinen Ermittlungen in der Fleischindustrie 2019 hat das Arbeitsministerium von NRW die (Un)Rechtmäßgkeit der Werkverträge gar nicht als Frage verfolgt.

Mietwucher
Zu den nachhaltigen Rechtsverstößen gehört nach allen bisher durch Medien und die Gewerkschaft NGG veröffentlichten und nicht bestrittenen Angaben auch der Mietwucher.

Für ein Bett im 6- oder 8-Bettzimmer, auch schon mal mit Doppelstockbetten, werden zwischen 150 und 300 Euro pro Monat verlangt. Die zieht der Werkvertragsvermittler – er ist oft in Tateinheit auch der Vermieter - vom Lohn ab. Auch dadurch wird der Mindestlohn unterlaufen. Die ortsübliche Miethöhe von maximal 5 Euro pro Quadratmeter in den ländlichen Vermietungsgebieten wird damit um ein Mehrfaches überschritten.

Mietwucher ist eine Straftat, wenn die Vermietung nach § 291 Strafgesetzbuch „gewerbsmäßig“ organisiert ist und dabei zudem die „Zwangslage“ und “Unerfahrenheit“ der Mieter ausgenutzt wird. Aber auch hier sorgen die Behörden bisher nicht für die Durchsetzung des Rechtsstaats. Das christlich geführte NRW-Arbeitsministerium hat auch in diesem Fall seine Erkenntnisse nicht an die zuständigen Staatsanwaltschaften weitergeleitet.

Mafia-Pate ja – Betriebsrat nein
Mit dem Konstrukt Werkvertrag halten die Fleischkonzerne die Beschäftigten in einem zusätzlich wehrlosen Zustand. Die Werkvertragsfirmen – allein Tönnies bezieht seine Fleischarbeiter aktuell von 12 verschiedenen solcher Firmen – sind gewerkschafts- und betriebsratsfeindlich. Werkvertragler haben in Deutschland noch nie und in keinem Fleischkonzern Betriebsräte gewählt. Einer Gewerkschaft beitreten? Kommt nicht infrage: Deutsche Fleisch-Leitkultur!

Die Werkvertragsfirmen sind oft ethnisch spezialisiert. Die Chefs kommen vielfach aus der jeweiligen Ethnie, aus Polen, Rumänien, auch wenn sie ihre Firma inzwischen in Deutschland angemeldet haben. So können die Beschäftigten leichter in ethnisch bestimmten Arbeits- und Wohngruppen getrennt und unter Druck gehalten werden.

Wer nicht spurt, wer etwa den Arbeitgeber verklagen will, wird dann schon mal vor der Unterkunft durch plötzlich auftauchende Schläger bedroht. Verprügeln gehört zu deren Handwerkszeug, so die Aussage eines Ex-Beschäftigten der Anhalter Fleischwaren GmbH in Zerbst/Thüringen.

Keine Mitbestimmung
Die Fleischkonzerne stehen auch an der Spitze beim Vermeiden der gesetzlichen Mitbestimmung. Das paritätische Mitbestimmungsgesetz von 1976 verpflichtet Unternehmen ab 2.000 Beschäftigten zur Bildung eines Aufsichtsrats, in dem die Beschäftigten die Hälfte der Mitglieder stellen. Das Drittelbeteiligungsgesetz von 2004 legt für Unternehmen ab 500 Beschäftigten einen Aufsichtsrat fest, in dem die Beschäftigten zumindest ein Drittel der Mitglieder stellen.

Alle Fleischkonzerne in Deutschland umgehen die Mitbestimmung. Tönnies hat, obwohl die meisten Betriebe in Deutschland ihren Standort haben, seine zentrale Holding in die Briefkastenfirma Tönnies Holding Verwaltungs ApS, ohne anwesendes Personal, ins dänische Städtchen Brorup verlegt.

Kampagne in NRW! Die betrügerischen Werkverträge für illegal erklären!
Bei aller hastigen Sorge jetzt wegen des Virus: Das Zwangsinstrument der betrügerischen Werkverträge muss für illegal erklärt werden! Die Subunternehmer, die keine Verleihlizenz haben, müssen bestraft werden, ebenso Tönnies, Vion, Westfleisch & Co wegen Beihilfe!

Die osteuropäischen Fleischzerleger müssen sich in Deutschland und in der EU frei bewegen können, müssen angstfrei an die Öffentlichkeit gehen können, müssen sich wehren können, müssen vor Gericht gehen können, müssen sich organisieren können! Das sind Menschenrechte! Und das sind doch europäische Werte, oder nicht?

Die Werkvertragler müssen in die Lage versetzt werden, den betrügerisch vorenthaltenen Lohn einzufordern!

NRW ist ein hot spot der Fleischindustrie. Im kleinen Rheda-Wiedenbrück unterhält der Tönnies-Konzern den größten Schweineschlachtbetrieb Europas mit den meisten Werkvertraglern.

Übrigens, eine Zwischenfrage: Tönnies leitet mehr Abwasser in die kommunale Kläranlage von Rheda-Wiedenbrück ein als alle anderen Betriebe und alle 48.000 Einwohner zusammen: Wieviel Methangas wird aus den Faultürmen emittiert? Wie sieht die Belastung des Flüsschens Ems aus? Wie und wo werden die vielen Tonnen Klärschlamm entsorgt?

Die NRW-Landesregierung hat durch ihre bundesweit erste flächendeckende Razzia im Jahre 2019 zahlreiche Mißstände bei der Fleischarbeit ermittelt. Aber die Werkverträge sind bisher kein Thema. Und die Landesregierung hat keinem Staatsanwalt die Erkenntnisse weitergereicht.

Da wäre doch einiges zu tun, Herr Arbeitsminister Laumann? Machen Sie Ihre Erkenntnisse öffentlich! Nennen Sie Namen von Tätern und Mittätern! Und wie heißt es doch im Betriebsverfassungs-Gesetz § 1: „In Betrieben mit über 5 regelmäßigen Arbeitnehmern werden Betriebsräte gewählt.“ Schon mal gehört?

Und Herr Ministerpräsident Laschet: Tragen Sie zur Lockerung der Arbeitsblockaden bei, die bisher beim Zoll, der Gewerbeaufsicht und den Staatsanwälten des Landes bestehen! Rechtsstaat, Menschenrechte, Sie wissen doch, oder?

Letzte Buchveröffentlichung von Werner Rügemer: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts. Gemeinverständlicher Abriss zum Aufstieg der neuen Finanzakteure. 2. erweiterte Auflage Köln 2020. www.werner-ruegemer.de und arbeitsunrecht.de

Foto: Werner Rügemer (arbeiterfotografie.com)